Informationsbroschüre Markt Wendelstein - page 96

Wirtschaft und Arbeit
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Wenn Maximilian Schreier, der letzte Bahnhofvor-
steher Wendelsteins, in seinen Fotoalben blättert
und in die Vergangenheit zurückblickt, kommt er
schnell ins Schwärmen. Die Erinnerungen sprudeln
förmlich aus ihm heraus: Der Besuch Konrad Ade-
nauers in Wendelstein, ein zweites Gleis in Röthen-
bach, ein extra Theaterzug.
Der Beruf des Eisenbahners liegt ihm im Blut, auch
sein Vater war bereits Bahnhofvorsteher in Wendel-
stein. Doch selbstverständlich ist das keineswegs,
denn die Familie Schreier kam mit vielen anderen
Flüchtlingsfamilien nach dem Krieg als Vertriebene
im Nachkriegsdeutschland an.
Der 1925 in Röwersdorf geborene Schreier wächst
im Nachbarort Liebenthal auf. Die früher schlesi-
schen Dörfer liegen im heutigen Tschechien. Dort
wohnt die Eisenbahnerfamilie im Bahnhof. Die
Ausbildung zum Vermessungstechniker, die der
junge Mann beginnt, kann er nicht abschließen.
1942 wird er zum Kriegsdienst eingezogen. „Vor
dem Tod hatte ich keine Angst, aber vor der russi-
schen Kriegsgefangenschaft!“ Deshalb wandert er
vom Osten bis zur Elbe. Dort gerät er in amerikani-
sche Kriegsgefangenschaft. Doch der junge Soldat
hat Glück. Er wird entlassen und begibt sich auf die
Suche nach seiner Familie. Schließlich wird er in
Nürnberg fündig. Die Bundesbahndirektion Nürn-
berg muss nach dem Krieg den Beschäftigten der
Eisenbahndirektion Oppeln einen Arbeitsort zuwei-
sen. Für den Vater wird in Wendelstein eine Stelle
frei. Die Familie kann in das Bahnhofsgebäude ein-
ziehen. Der Sohn Maximilian fängt bei der Bahn
eine allgemeine Verwaltungsausbildung an.
Täglich nach Nürnberg gelaufen
Die Schilderungen des Alltags klingen bei heute so
selbstverständlicher Mobilität unglaublich. Täglich
läuft er vonWendelstein zu seiner Arbeitsstelle nach
Nürnberg. Bei jedem Wetter, bei jeder Schicht. Ein
Fahrrad kann er sich erst leisten, als bei der Wäh-
rungsreform jeder Bürger 40 D-Mark erhält. Noch
einmal so viel muss er sich ausleihen, dann kann er
sich davon ein Fahrrad kaufen. „Überhaupt ist man
viel gelaufen“, erinnert sich seine Frau Anni, eine
geboreneWendelsteinerin. „Die Nürnberger Straßen-
bahn ging früher bis zur Bauernfeindstraße, da sind
wir von Wendelstein aus mit dem Fahrrad hinge-
fahren aber auch oft gelaufen und dann mit der
Straßenbahn weiter in die Stadt gefahren. In die
umgekehrte Richtung besuchten auch viele Nürn-
berger Wendelstein als Ausflugsziel amWochenende
und kehrten in den zahlreichen Gaststätten ein.“
Theaterzug fuhr spät ab
Täglich verkehrten zwischen Wendelstein und
Feucht circa 10 Züge, am Wochenende waren es
weniger. Der erste Zug fuhr um 5.00 Uhr morgens
los. Meistens musste man in Feucht umsteigen
oder es fand ein „Kopfwechsel“ statt. Das heißt,
dass die Lok vom Anfang des Zuges an das Ende
rangiert wurde. Deshalb dauerte es circa 50 Minu-
ten, bis man von Wendelstein am Nürnberger
Hauptbahnhof ankam. Immerhin fuhr Samstag-
abend ein „Theaterzug“, schmunzelt der 85-Jährige.
Er sieht in seinen alten Fahrplänen nach, die er alle-
samt aufgehoben hat. Mit dem Finger fährt er die
passende Zeile entlang: „Um 23.24 Uhr fuhr der
Zug am Nürnberger Bahnhof ab“. So konnten die
Wendelsteiner ins Nürnberger Theater gehen, ohne
nach Hause laufen zu müssen.
Gewöhnlich hingen an einer Dampflok zwischen
drei und vier Waggons. Ein weiterer Haltepunkt war
Röthenbach bei St. Wolfgang. Ein zweites Gleis sollte
über Röthenbach eine Verbindung nach Nerreth
herstellen. Auf dem ehemaligen MAN-Gelände war
ursprünglich kriegsbedingt der Bau eines Panzer-
werks vorgesehen. Doch aus den Plänen wurde
nichts. Sowohl die Gleise als auch eine bereits exis-
tierende Brücke über den Kanal wurde schon vor
Kriegsende wieder abgebaut.
1951 schließt Maximilian Schreier seine Verwal-
tungsausbildung ab, 1953 wird er Beamter. Ab-
wechslungsreich und kunterbunt wird sein Berufs-
leben. Unter anderem arbeitet er im Fahrplanbüro,
als Fahrdienstleiter, rechnet später Kostenvoran-
schläge für Frachtgüter nach ganz Europa und Asien
aus. Nichts ist dem Vollbluteisenbahner fremd.
1957 wird die Stelle in Wendelstein frei. „Obwohl
die Strecke keine Zukunftsperspektive für mich
bot, habe ich doch zugegriffen“. Die Nähe zum
Der Wendelsteiner Bahnhof früher
Ein Leben für die Eisenbahn
Maximilian Schreier, der letzte Bahnhofs-
vorsteher Wendelsteins, erinnert sich:
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